Idyllen der Dystopie
Gabor Baksay hat in guter Tradition auch die aktuelle Ausstellung "Bilder aus einem vergangenen Land: Fall der Berliner Mauer" (bis 15. Dezember 2019 im KuK auf Parterre und erster Etage) unter die Lupe genommen und geht unter dem Titel "Idyllen der Dystopie" auf seine Eindrücke ein:
Nina Hagens entzückende Crazyness zeigt sich bereits in der Titelzeite ihres noch in der DDR entstandenen Frühwerks "Du hast den Farbfilm vergessen".
Nun gab es ja im real existierenden Arbeiter- und Bauernstaat auffallend viele Fotografinnen und Fotografen. Dieses vermeintlich dem "Realismus" verpflichtete Medium eignete sich hervorragend als Ausdrucksmittel einer der dekadenten Westkunst abgewandten und der spartanischen Funktionalität des sozialistischen Realismus zugewandten Bevölkerung. Fotozirkel, Betriebsfotogruppen, zentrale Fotowettbewerbe, Leistungsschauen bei den Arbeiterfestspielen, Ausstellungen, Foto-Bücher fanden großen Zulauf. Aber doch bitte – wo denken Sie hin, Frau Hagen?! – nicht in Farbe, sondern in ungeschminktem Schwarz-Weiß!
In einem seltenen Glücksfall verband sich in der DDR-Fotografie Konsumverzicht mangels Kaufkraft mit selbstbewusstem Beharren auf Schwarz-Weiß als Königsdisziplin der Fotografie. Deshalb und dem richtigen Gespür für kuratorische Konsequenz exponieren sich sämtliche Exponate der Ausstellung durch den Verzicht auf Farbe. Eher selten findet sich dabei das poesiedurchflutete, nuancenreiche Schwarz-Weiß der Klassiker, von Herbert List bis Paul Hoyningen-Huene. Tonangebend ist hier der kontrastreich, grobkörnige Brutalismus der illusionslosen Ästhetik einer punktgenau beobachteten Tristesse. Die dystopische Realität einer überall sichtbaren Armut wird aufgehoben durch den künstlerisch elaborierten, geradezu zärtlichen Blick auf Idyllen der Menschlichkeit.
Bereits der erste Raum des KuK zeigt unter dem clever kalkulierten, falsche Erwartungen weckenden Titel "Frauen - Schönheit - Schicht" dessen genaues Gegenteil: erschöpfte Gesichter, schmucklos-funktionale Kleidung und marode Produktionsmittel. Diese für die faltenfreie Makellosigkeit des sozialistischen Teints zuständigen Arbeiterinnen des "VEB-Kosmetik-Kombinats" sind von einer herben Nüchternheit. Wenn auch manchmal schockierend, etwa in der erschreckenden Großaufnahme zweier zerschundener Füße in einem ruinierten Paar Sandalen, wird das Aufzeichnen der Missstände gleichzeitig auch in den Zustand des Kunst-Wollens und Kunst-Findens erhoben. In diesem Fall wie in vielen anderen rettet ein zu Hilfe eilender Humor vor der Depression. Über diesem Trümmerhaufen aus endgültig erledigtem Schuhwerk hängt das Bild eines frivol eine Treppe hinunterspazierenden Frauenbeins. Der an die Wand geklebte Hinweis "Licht auschalten" appelliert einerseits an den Pflichteifer der Kombinats-Genossinnen, fotokompositorisch gibt er einen dezenten Hinweis auf eines der wichtigsten Werkzeuge zur Bewältigung totalitärer Lebensumstände: missliche Faktenlagen einfach auszublenden.
Aus der Serie Frauen-Schönheit-Schicht, Frauen im VEB-Kosmetik-Kombinat, 1988/1989 ©Barbara Köppe
Ein endzeitliches Bild der Verlorenheit bietet die Arbeiterin, die ihren von einem plastiksackartigen Haarnetz "geschmückten" Kopf erschöpft aufgestützt an einem Tisch sitzt. In dem von der Werksleitung freundlicherweise zur Verfügung gestellten Pausenraum widmet sie sich gerade ihrer Rekreation. Trotz des insgesamt traurigen Eindrucks wird die drohende Depression des Betrachters durch die ästhetische Komplexität des Ganzen aufgehoben. Die perspektivisch gebrochene Symmetrie der Infotafeln wiederholt die nach links verschobene Symmetrie des leeren Tisches und der Sitzenden. Das Hauptthema der Komposition beschäftigt sich mit binärer Zweiheit, die ihren künstlerischen Ausdruck in den beiden Tischen, den Milchkännchen, den Infotafeln und den fast schon frivol ihren Platz behauptenden Steckdosen findet. Selbstverständlich wird der rechte obere Bildrand – in der klassischen Kompositionskunst dem Fürsten oder der Gottheit vorbehalten - von keinem Geringeren als Erich Honecker eingenommen.
Dass Ornament ein Verbrechen ist, muss seit Adolf Loos niemand mehr beweisen. Umso klammheimlicher darf man sich die Freude der Fotografin vorstellen, als sie bemerkte, dass sich das direkt aus der Hölle der Tapeten entstiegene Wandkleid nicht nur auf dem praktisch, abwaschbaren Tischtuch, sondern auch - etwas dezenter - auf dem ebenso pflegeleichten Fußbodenbelag widerspiegelt. Sollte dieses Schaubild der melancholischen Widerlegung heiliger sozialistischer Werte noch eines i-Tüpfelchens bedürfen, bietet die erschlafft in eine Ecke gelehnte Werksfahne - oder was immer das sein mag - genau das.
Aus der Serie Frauen-Schönheit-Schicht, Frauen im VEB-Kosmetik-Kombinat, 1988/1989 ©Barbara Köppe
Die ironische Gegenüberstellung von Faktum vs. Fiktum in dem Foto einer ihren Kaffee (oder ist es Ochsenschwanzsuppe?) inhalierenden Reinigungskraft neben einem werblichen Zwecken dienenden Propagandafoto ihres Arbeitgeber ("Florena cosmetics") bedarf keiner expliziten Bildbetrachtung. Die Freude am Aufeinanderprallen von Wunschbild und Wirklichkeit erschließt sich hier auch dem ungeübten Betrachter auf den ersten Blick.
Die Serie "Frauen - Schönheit - Schicht" ist von Barbara Köppe, deren Arbeiten als freie Bildjournalistin vor dem Mauerfall in inzwischen längst von Hochglanzmagazinen westlicher Prägung verdrängten Publikationen erschienen sind, darunter "Der Sonntag", "Neue Berliner Illustrierte" und "FF DABEI". Für mich ist ihre visuelle Genauigkeit, ihr sagenhafter Blick für Komposition eine Entdeckung, wenn nicht DIE Entdeckung dieser Ausstellung. Aus gutem Grund sind deshalb ihre brillant fotografierten, herb-poetischen, ungeschminkt vom DDR-Alltag erzählenden Fotostrecken auf sämtlichen Etagen der KuK-Ausstellung üppig vertreten.
Köppes Naturalismus wirkt schonungslos, ist aber nie denunzierend. Die Arbeiterinnen des Kosmetik-Kombinats mögen vielleicht von einer harschen Realität gezeichnet sein, würdelos oder willenlos sind sie deshalb noch lange nicht. Der Feminismus der Fotografin stammt nicht aus dem Lehrbuch neuzeitlicher Ideologien, sondern wie es die ihr künstlerisch artverwandte Käthe Kollwitz genannt hat: "aus der Wahrheit der fünf Sinne". Die unbeugsame Grandezza dieser - man darf ruhig sagen: - Meisterin zeigt sich auch in ihrer abschließenden professionellen Entscheidung: 2007 hörte sie einfach auf zu fotografieren… "Warum den Bilderberg unserer bildüberfluteten Zeit noch höher machen?"
Leonid Breschnew, Erich Honecker, 30. Jahrestag der DDR, Berlin-Ost, 1979 ©Barbara Klemm
Der dem Mauerfall selbst gewidmete Raum auf der ersten Etage wird von einer weiteren Barbara, diesmal von der aus dem Westen stammenden "Grande Dame des Fotojournalismus", der FAZ-Fotografin Barbara Klemm bespielt. Von ihr stammt der berühmte "Bruderkuss" von Leonid Breschnew und Erich Honecker aus dem Jahre 1979. Zurecht eine Ikone der Fotografie, kennt man diese Aufnahme eigentlich nur als Ausschnitt der beiden einander zugetanen Volksgenossen. Das Privileg, die Arbeit hier einmal in ihrer Gänze betrachten zu können, ist durchaus gewinnbringend. Während man noch rätselt, was sich Andrei Gromiko und Konstantin Tschernenko wohl Brüderliches zuflüstern, scheint es, als würden die Würdenträger Spalier stehen, um als nächster - wen eigentlich? - Breschnew oder Honecker abküssen zu dürfen.
Fan des 1. FC Union Berlin, 1980 ©Werner Mahler
Der von Ute und Werner Mahler festgehaltene Moment, in dem ein überglücklicher DDR-Bürger beim Durchschreiten des Brandenburger Tores die Arme hochreißt, ist ebenfalls eine fotografische Ikone und Sinnbild der entfesselten Begeisterung eines ganzen Volkes. Das in überirdisches Licht getauchte Porträt eines jungen Mannes hielt ich fälschlicher Weise ebenfalls für einen zeitlos gültig festgehaltenen Glücksmoment des 9. November. (Wer den 9. November 1989 miterlebt hat, weiß, dass an dem Abend und in den folgenden drei Monaten, die am häufigsten verwendete Vokabel der deutschen Sprache "Wahnsinn!!!" war.)
Wer anders, so dachte ich, als dieser ekstatisch das neue Jerusalem erblickende Fokuhila-Engel, hätte das Glücksversprechen des Mauerfalls inniger, ansteckender und stimmiger zum Ausdruck bringen können als dieser enthusiastisch verzückte Jüngling? Das mit der enthusiastischen Verzückung stimmt schon, nur befindet er sich nicht auf der Mauer, sondern auf einem Fußballplatz. Das Foto zeigt, neun Jahre vor dem Mauerfall, einen Fan des 1. FC Union Berlin.
Gabor Baksay