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Martin Buber lesend im Zug

 

„Vieles ist mir nicht gelungen. Picasso zum Beispiel habe ich dreimal besucht und habe ihn nicht fotografieren können. Wenn ich hörte, dass Martin Buber im Lande war, machte ich mich auf die Reise zu ihm, doch immer vergebens: Es ergab sich kein Termin, keine Möglichkeit für mich.

 

36 BuberAn diesem Abend fuhr ich mit der Bahn nach Bonn, um am anderen Tag ausländische Diplomaten für eine Zeitschrift zu fotografieren. Ich war müde, lehnte mich in eine Abteilecke, wollte nicht gestört werden. Im letzten Augenblick vor der Abfahrt stieg ein altes Ehepaar in den Wagen, völlig außer Atem, lautstark über das Warum und das Wie ihrer Verspätung palavernd, und das in unüberhörbar wienerischem Tonfall. Die erregten alten Leute konnten sich nicht über die beinahe verpasste Abfahrt beruhigen. Unlustig sah ich an dem Vollbärtigen vorbei, bis schließlich doch Ruhe einkehrte. Ich döste hinaus in die Nacht. Gerade hatten wir Köln passiert, als ich aufschrak: Plötzlich wusste ich, mein Nachbar, der Mann mit dem Vollbart, war niemand anders als Martin Buber aus Jerusalem. Verrückt: Zweimal war ich zu ihm gereist, ohne ihn zu treffen. Jetzt sitzt er neben mir, der Zug ist in sieben Minuten in Bonn, meine Kamera ohne Film, das Blitzlicht zu Hause, der Zug hat normales trübes Abendlicht und gleich wird der Augenblick vorüber sein, diese Chance. Ich mag außerdem nicht einfach auf diesen Mann losgehen, obwohl ich weiß, er fährt in Kürze wieder heim nach Israel – ich mag es nicht und beginne dann doch, meine Kamera vorzubereiten, krame nach meinem Presseausweis, schaffe es mit Herzklopfen, ihn um Erlaubnis zu fragen. Er schiebt den gelben Ausweis zur Seite. ‚Lassen’s nur Ihre Legitimation. Ich glaub Ihnen so!‘ Und ich kann ihn fotografieren, im halben Zuglicht, drei Minuten bis Bonn. Der Weise ist tolerant, er liest weiter. Aber als ich später seine Vergrößerungen ansehe, stelle ich fest: Er liest nicht. Er ist auf meine Kamera konzentriert, sein Rollenverhalten ist ‚Lesen‘ – dieser weise Spaßmacher.“
(Lieselotte Strelow, 1908-1981)
Foto: Martin Buber lesend im Zug, 1954 © Liselotte Strelow / Johanna Breede photokunst